Interview mit Valérie Anouk Clapasson, ehemalige Geschäftsleiterin der Genossenschaft Kalkbreite, welche eine Transformation mit den Prinzipien der Selbstorganisation vorantreibt. Heute engagiert sie sich für das ZfV und gibt eine lebendige Einsicht in eine konkrete Transformation und verrät im Interview hilfreiche Praxistipps.
1. Valérie Anouk Clapasson, kannst du uns kurz deine Organisation vorstellen und erläutern, was dich/euch zur Umstellung auf Selbstorganisation bewogen hat?
Die Genossenschaft Kalkbreite vermietet im Zentrum von Zürich seit 2014 bezahlbare Wohnungen und Gewerberäume sowie führt ein Hotel an zwei Standorten. Der Jahresumsatz beträgt knapp 8 Millionen und wird von den rund 25 Mitarbeitenden in den zwei bisherigen Wohn- und Gewerbebauten erwirtschaftet. Ein drittes Immobilienprojekt ist in Entwicklung.
Die Genossenschaft ist 2007 aus einem partizipativen Prozess mit Quartierbewohner*innen entstanden und war von Beginn weg breit aufgestellt mit tief verankerten partizipativen Strukturen in den Liegenschaften. Trotz dieser Entstehungsgeschichte war die Verwaltung bisher klassisch organisiert mit Geschäftsleitung, Bereichsleitungen und Mitarbeitenden. Diese Organisationsform und die komplexen Themen in und um die Liegenschaften führten in den vergangenen Jahren immer wieder zu Engpässen, Ineffizienzen, Konflikten und enttäuschten Erwartungen.
Im Laufe der Jahre und reifte deshalb der Entscheid, ein Managementmodell zu entwickeln und umzusetzen, welches einerseits die Klarheit und Effizienz der Verwaltungsabläufe steigert sowie andererseits die Betroffenen zu Beteiligten macht im Sinne der Maxime: Entscheide dort treffen, wo Fachexpertise und Verantwortlichkeiten liegen. Dies kann auf der Ebene der Geschäftsstelle (Mitarbeitende), auf der Ebene des Vorstands (strategische Leitung) oder auf der Ebene der Mieter*innen (Kunden) sein.
Im Rückblick gingen wir damit eigentlich wieder zurück zu den partizipativen Anfängen der Genossenschaft und wurden dabei durch das Ziel motiviert, nicht nur innovative Immobilienprojekte zu entwickeln, sondern auch auf der Verwaltungsebene ein innovatives Modell zu nutzen, um unsere spezifischen Herausforderungen besser lösen zu können und ein Umfeld zu schaffen, das den Bedürfnissen unserer vielfältigen Gemeinschaft besser gerecht wird.
2. Wie genau seid ihr die Umstellung innerhalb der Organisation angegangen?
Wir arbeiteten parallel auf verschiedenen Ebenen der Genossenschaft. Einerseits wurden auf übergeordneter Ebene strategische Initiativen umgesetzt, um das Vorhaben zu unterstützen. So wurde beispielsweise die Überarbeitung der Vision der Genossenschaft oder eine Veränderung der Vermietungsgrundsätze angestossen und weiterbearbeitet.
Als Geschäftsleiterin war ich für die operative Ebene zuständig. Dort arbeiteten wir von Beginn weg auf drei Ebenen: Struktur, Kultur und Skills/Methoden/Tools.
Ab 2023 arbeiteten wir an der Veränderung der Strukturen, um die Umstellung auf selbstorganisierte Prozesse zu ermöglichen und die Aufgaben sinnvoll zu strukturieren. Wir liessen uns dabei vom Prinzip leiten, dass Verantwortlichkeiten immer mit entsprechenden Kompetenzen ausgestattet sein müssen, um diese richtig wahrnehmen zu können.
Ebenfalls arbeiteten wir auf der Kultur-Ebene. Auf der Team-Ebene entwickelten wir beispielsweise Prinzipien zur Zusammenarbeit, welche die neuen Strukturen unterstützen. Für das oben genannte Beispiel von der Untrennbarkeit von Verantwortlichkeit und Kompetenzen einigten wir uns beispielsweise auf das Prinzip “Vertrauen vor Mitsprache” was übersetzt heisst “ich vertraue der Person, die verantwortlich für den Prozess/die Aufgabe ist, dass sie ihre Kompetenzen zur Erfüllung dieser Aufgabe im Sinne des Organisationszwecks einsetzt”.
Wir machten die Erfahrung, dass solche gemeinsam entwickelten Prinzipien die Kultur unserer Zusammenarbeit enorm prägen und so sehr viel schneller die ganze Organisation zu verändern vermögen als alle auf dem Blatt definierten neuen Strukturen. Wir arbeiteten deshalb parallel an diesen beiden Ebenen.
Auf der dritten Ebene arbeiteten wir einerseits an der stetigen Ausbildung der Mitarbeitenden (Kennenlernen und Anwenden lernen von Methoden einer selbstorganisierten Organisation) sowie an den entsprechenden digitalen Tools, die unsere Ziele unterstützen.
Auf dieser Ebene liessen wir uns leiten vom Gedanken, dass wir die Methoden nach dem Kennenlernen immer wieder üben müssen und diese nicht einfach so schon können. Wir fingen ab einem bestimmten Zeitpunkt an, das neu Gelernte in realen Situationen anzuwenden und wurden so immer besser. Ganz nach dem Prinzip “gut genug, um es mal auszuprobieren”, was Druck reduzierte und Möglichkeitsräume öffnete.
Bei der Suche nach den richtigen digitalen Tools hielten wir uns an den Grundsatz, dass diese unsere Arbeit unterstützen müssen und nicht wir Menschen unsere Prozesse rund um die Tools ausrichten müssen. Das half, die richtigen zu finden und nicht zu viele neue einzuführen.
3. Welche Herausforderungen sind bei einer solch grossen Organisationsentwicklung begegnet und wie habt ihr diese gemeistert?
Einige Mitarbeitende auf der Geschäftsstelle trugen schon länger Gedanken einer solchen Entwicklung mit sich herum. Als es dann konkret wurde, hatte dieser harte Kern einerseits die Aufgabe, Verständnis und Kenntnis über eine solche neue Organisationsform zu schaffen und andererseits, kritische Mitarbeitende und Vorstände mitzunehmen und immer wieder einzubinden, um dort Verständnis zu schaffen und die Vorteile sichtbar zu machen. Informell war die Verantwortung entlang der Fachbereiche schon längst delegiert und gelebt, nun ging es darum, diese auch formell festzusetzen und nach aussen in den neuen Strukturen sichtbar zu machen.
Unsicherheit, Unwissenheit und Skepsis begegneten wir mit Stabilität, Aufklärung und Transparenz sowie Räumen, in denen immer wieder kritische Fragen gestellt werden konnten (Workshops, Retraiten). Lange Zeit war die Umstellung auch “nur” ein Pilotprojekt, welches erst mit einem Vorstandsentscheid definitiv wurde. Auch bei diesem Vorstandsentscheid haben wir uns vorbehalten, das System immer wieder zu evaluieren und – wenn wir das nötig finden – anzupassen und den Bedürfnissen entlang zu entwickeln. So kann eine hohe Agilität erreicht werden und gleichzeitig die Sicherheit, dass alles auch wieder veränderbar ist. Das hat eine enorme Freiheit geschaffen.
Wichtig war uns beispielsweise auch, dass wir in unserem Tempo vorangehen konnten. So gab es beispielsweise eine Situation, in der aus Sicht der Selbstorganisation ein Thema dringend vorangetrieben werden sollte, aber aus Sicht des Unternehmens dies auf keinen Fall ging, weil es in dem Moment eine zu grosse Instabilität ausgelöst hätte. Wir haben dann auf Anpassungen verzichtet, zu Ungunsten der Selbstorganisation, zu Gunsten der Stabilität. Wir mussten dabei lernen, mit dieser Spannung umzugehen, bis sie dann zu einem späteren Zeitpunkt gelöst werden konnte.
4. Zu wem passen selbstorganisierte Organisationsformen?
Meiner Meinung nach passen solche Organisationsformen besonders gut zu Organisationen, deren Mitarbeitende eine hohe Identifikation mit dem Unternehmen haben und die auf ein gemeinsames Werteziel hinarbeiten, also zum Beispiel wertegetriebene Non-Profit-Organisationen oder auch Berufsverbände mit Mitgliedern, die aus einem bestimmten gemeinsamen Interesse Mitglied beim Verband sind.
Es kann damit ein passender Rahmen geschaffen werden, wenn eine Organisation mit komplexen Entscheidungsprozessen und vielfältigen Interessen umgehen muss. So können beispielsweise in einer selbstorganisierten Struktur Prozesse effizienter und transparenter gestaltet werden, was zu einer höheren Zufriedenheit aller Betroffenen führt. Zudem fördert sie die aktive Beteiligung und das Engagement der Mitglieder, was zu innovativen Lösungen und einer stärkeren Identifikation mit den Verbandszielen und allenfalls Mitgliederwachstum führen kann.
Solche Organisationsformen passen ebenfalls zu Unternehmen, die agil und flexibel reagieren müssen, um auf dem Markt zu bestehen sowie einen hohen Innovationsdrang haben.
Meine Überzeugung ist es, dass es Menschen und Organisationen gut geht, wenn wir uns auf Augenhöhe begegnen, grösstmögliche Klarheit über Aufgaben und Nicht-Aufgaben herrscht und in einer Atmosphäre des Vertrauens viel Eigenverantwortung übernommen werden kann und dies erwünscht ist. In einer solchen vertrauensvollen Kultur besteht eine hohe Leistungsbereitschaft und Innovationskraft und arbeiten die Menschen mit Spass, Effizienz und mit Blick auf die Ziele der Organisation hervorragend zusammen.
Weitere Informationen
Valérie Anouk Clapasson war bis Mai 2024 Geschäftsleiterin der Genossenschaft Kalkbreite. Mit der Organisationsentwicklung konnte sie ihre vielfältigen Aufgaben als Geschäftsleiterin weitergeben an das Team, welches neu als Kollektiv die Geschäftsleitung übernommen hat und sie selbstorganisiert weiterführt und dabei vom Vorstand und den neuen Strukturen hervorragend unterstützt wird. Valérie Anouk Clapasson gibt ihre Erfahrungen und ihr Wissen seither als Coach des Zentrums für Verbandsführung weiter und unterstützt dabei auch das Kalkbreite-Team bei spezifischen Fragen.