Grenzen sind da, um überschritten zu werden – sonst bleiben wir stehen
Wirklich gute Organisationen wachsen. Immer. Sie nutzen Chancen, verlassen Komfortzonen, fordern sich gegenseitig heraus. Wachstum bedeutet: nicht stehen bleiben. Und um zu wachsen, müssen wir Grenzen überwinden. Unsere eigenen. Die unserer Systeme. Die unserer Rollen.
Gerade in NPOs, die sich selbstorganisiert und innovativ aufstellen, gilt das besonders. Wenn alle sich einbringen, wenn Rollen flexibel sind, wenn Verantwortung geteilt wird, dann darf es keine harten Grenzen geben. Denn starre Abgrenzung verhindert Entwicklung. Grenzen? Sind was für Verwaltungen. Nicht für uns.
Soweit das Ideal.
Aber genau hier beginnt das Problem.
Bei Ruth C. Cohn habe ich etwas gelernt, das mich bis heute begleitet: Grenzen sind zu respektieren, damit Wachstum möglich wird. Sie formulierte das als Axiom. Nicht als Empfehlung, sondern als fundamentale Wahrheit. So grundlegend wie 1 + 1 = 2. Und trotzdem: Wir vergessen diese Wahrheit immer wieder. Auch ich.
Gerade in soziokratisch organisierten Teams, wo Selbstverantwortung und Transparenz hochgehalten werden, aber gleichzeitig keine klassischen hierarchischen Steuerungsmechanismen mehr greifen, wird das Thema "Grenzen" oft unterschätzt. Zu oft versuchen wir alles gleichzeitig zu tun – und merken zu spät, dass wir uns damit in eine Einbahnstrasse manövrieren. Wachstum braucht Fokus. Und Fokus heisst: Nein sagen.
Ein zentrales Element soziokratischer Organisationen ist die klare Trennung von Mensch und Rolle. Ich bin nicht mein Jobtitel. Ich fülle eine Rolle aus, mit einem spezifischen Zweck, definierten Verantwortlichkeiten und einer eigenen Domäne. Diese Rollen sollen helfen, Klarheit zu schaffen. Doch genau hier wird oft die Grenze verwischt: Wo hört meine Rolle auf? Wo beginnt die Verantwortung einer anderen Rolle? Wer trifft Entscheidungen? Wer sagt: "Das mache ich nicht"?
Wenn wir diese Klarheit verlieren, verlieren wir unsere Wirkung.
Gerade in kleinen Organisationen und Startups, in denen alle alles ein wenig machen, geraten wir leicht in die Falle, es allen recht machen zu wollen. Doch in der Not-To-Do-Logik heisst das: Tun Sie nicht alles gleichzeitig. Denn wer überall hilft, hilft oft nirgends richtig. Und wer seine Grenzen nicht kennt oder respektiert, überfordert sich und andere – und gefährdet damit unter Umständen sogar die Organisation, weil ein Ausfall plötzlich eine noch grössere Lücke hinterlässt.
Ich finde viele Analogien in der Bergwelt. Wenn ich draussen unterwegs bin, frage ich mich immer wieder: Wo liegen meine Grenzen? Und ich weiss: Wenn ich nichts wage, werde ich sie nie genau kennen. Aber manchmal ist es nur ein Schritt zu viel und schon gleitet man mit dem Schnee den Hang hinunter – sprich: Lawine. Oder streift mit dem Pedal einen Stein, verliert die Balance und stürzt einen Hang mit Felsbrocken hinunter. Ich hatte Glück. Oft. Und doch weiss ich, dass Glück kein Konzept für gute Teamprozesse oder nachhaltige Organisationen ist.
Ein Startup aufzubauen ist eine Grenzerfahrung. Nicht nur wegen der finanziellen Unsicherheit, sondern weil jeden Tag neue Erwartungen, neue Spannungen, neue Rollen entstehen. Das ZfV ist das ambitionierteste Projekt, das ich je mitgestaltet habe. Nicht wegen seiner Grösse, sondern wegen des Anspruchs: Selbstfinanziert. Selbstorganisiert. Und mit dem Wunsch, gemeinsam mit dem Team, dem Verwaltungsrat und unseren Kund:innen zu wachsen.
Aber wie wachsen wir gesund? Indem wir uns diese Fragen stellen:
- Wo liegen meine persönlichen Energiegrenzen?
- Wo sind die Grenzen meines Teams, jeder einzelnen Person?
- Wann ist es an der Zeit, Nein zu sagen?
- Welche Verantwortung trägt meine Rolle? Und wo darf ich loslassen?
Niemandem ist geholfen, wenn wir alles wollen und am Ende niemand mehr kann. Und trotzdem: NPOs sollen gestalten, nicht nur verwalten. Doch auch hier braucht es Grenzen. Die von Zeit. Die von Tools. Die von Menschen.
Grenzen zu setzen, heisst nicht resignieren. Es heisst Priorisieren.
Wenn eine Mitgliederversammlung ansteht, hat sie Priorität. Punkt. Doch was tun, wenn gleichzeitig andere Rollen und Aufgaben Aufmerksamkeit brauchen? Wann greifen wir ein, obwohl es nicht unsere Domäne ist? Wann ist eine Intervention notwendig – und wann überschreiten wir eine Linie?
Die Balance zwischen Verantwortung und Grenzachtung ist herausfordernd. Und sie ist fühlbar. Deshalb verstehe ich gut, wenn Menschen in Führungsverantwortung von Einsamkeit sprechen. Nicht, weil sie allein sind, sondern weil sie Entscheidungen tragen müssen, die andere vielleicht nicht sehen.
Zum Glück bin ich Teil eines Meet-ups, in dem solche Fragen Raum haben. Wo Menschen ehrlich teilen, wo sie anstehen, wo sie Grenzen überschritten haben, wo sie lernen mussten, Nein zu sagen. Denn: Grenzen lotet man am besten nicht allein aus.
Und trotzdem bleibt jede Entscheidung ein Akt der Abwägung. Wo höre ich zu? Wo folge ich einem Rat? Und wo entscheide ich mich bewusst, einen Schritt weiter zu gehen, weil ich es für richtig halte?
Ich habe keine Patentrezepte. Aber ein Ritual: Ich reflektiere jeden Abend. Und ich höre auf meinen Körper. Auch das habe ich bei Ruth C. Cohn gelernt, in der Themenzentrierten Interaktion:
- Wo verändert sich mein Atem?
- Wann zieht sich mein Bauch zusammen?
- Wann wird mir schwer ums Herz?
- Wo spüre ich Widerstand oder Kraft?
Diese feinen Signale sind meine Orientierung. Denn sie erinnern mich:
- Grenzen sind keine Schwäche. Sie sind unser Halt.
- Nein sagen ist keine Kapitulation. Es ist eine Entscheidung für Wirkung.
- Und wer seine Grenzen kennt, kann andere besser unterstützen.
Denn nur wer seine Grenzen kennt und respektiert, kann auch wirklich wachsen – ganz im Sinne des Axioms von Ruth C. Cohn.